Der Schritt darf als direkte Quittung an Recep Tayyip Erdogan verstanden werden. Deutschland hat in Brüssel die nächste Runde der Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei blockiert. EU-Diplomaten berichten, als Reaktion auf den Umgang der türkischen Regierung mit den Protesten habe Berlin am Donnerstag ein Veto gegen die Öffnung des nächsten Verhandlungskapitels eingelegt. "Es gibt viele offene Fragen", heißt es dazu aus Brüssel.
Ursprünglich sollte die nächste Runde an Beitrittsgesprächen mit Ankara über den Bereich Regionalpolitik am kommenden Mittwoch beginnen. Nach drei Jahren Pause im Beitrittsprozess wäre das ein Signal an die Türkei gewesen. Aber vor allem in Berlin regte sich Widerstand gegen eine falsche Belohnung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte die Einsätze der türkischen Polizei mit bisher fünf Toten und 7500 Verletzten als inakzeptabel bezeichnet. Die Reaktion der Regierung in Ankara auf die Proteste gegen ein umstrittenes Bauprojekt sei viel zu hart. Auslöser der seit fast drei Wochen anhaltenden Demonstrationen waren umstrittene Pläne für eine Bebauung des Gezi-Parks nahe dem Taksim-Platz in Istanbul. Inzwischen aber richtet sich der Protest der Türken ganz allgemein gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.
Angesichts der Polizeigewalt in der Türkei hat Unionsfraktionschef Volker Kauder Ankara sogar mit einem Aussetzen der EU-Beitrittsverhandlungen gedroht. "Ich glaube nicht, dass die Lösung in unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten und der Einschüchterung kritischer Bürger liegt", sagte der CDU-Politiker der "Welt". Kauder warnte Ankara davor, auch noch Militär einzusetzen. Dieses Vorgehen würde die Türkei "um Lichtjahre von Europa" entfernen, als Konsequenz daraus "müsste die EU die Beitrittsverhandlungen unterbrechen". Die türkische Regierung hatte vor wenigen Tagen mit einem Einsatz der Streitkräfte gedroht, sollten die Proteste andauern.
Kauder betonte noch einmal, was seit Langem bekannte Position seiner Partei ist: Eine Vollmitgliedschaft der Türkei sei kein Anliegen der Union, und die Türkei erfülle die Voraussetzungen ohnehin nicht. Stattdessen plädierte der Fraktionsvorsitzende erneut für besondere Beziehungen. "Wir sollten die Türkei darin unterstützen, ein modernes Land zu werden, in dem Menschenrechte gelten", sagte Kauder. Die Eröffnung eines neues Verhandlungskapitels sei in der heutigen Situation jedenfalls unangebracht.
Für einen solchen Schritt bedarf es auf EU-Ebene der Einstimmigkeit. Eine letzte Gelegenheit für eine Einigung ergibt sich am Montagmorgen bei einer Sitzung der EU-Botschafter vor einem Treffen der europäischen Außenminister in Luxemburg. Es gilt jedoch als unwahrscheinlich, dass Berlin sich in der Frage bewegen wird. Auch die Niederlande teilen die Bedenken, wollen aber kein Veto einlegen. Ein britischer Vertreter sagte der "Welt", man sei ebenfalls besorgt über die Lage in der Türkei. "Aber wir sind nicht der Ansicht, dass man diese Bedenken mit der Verhinderung technischer Gespräche Rechnung trägt." Der Weg zu einer moderneren Türkei führe nur über den politischen Dialog.
Unterdessen belastet der Streit um das harte Vorgehen der türkischen Polizei auch das deutsch-türkische Verhältnis. Am Freitagmorgen hatte das Auswärtige Amt den türkischen Botschafter in Deutschland einbestellt, weil man sich in Berlin über die Äußerungen des türkischen Ministers für europäische Angelegenheiten, Egemen Bagis, ärgerte. Dieser hatte Merkel davor gewarnt, aus dem Beitritt der Türkei zur EU ein Wahlkampfthema für die Bundestagswahl im September zu machen. Bagis wollte es dabei nicht belassen und verwies auf das Schicksal eines anderen, erklärten Gegners des türkischen Beitritts. So habe schon Nicolas Sarkozy bei der französischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2012 eine Niederlage erlitten. "Die Türkei eignet sich nicht für innenpolitische Spielereien", fügte der Minister hinzu.
In Berlin verbittet man sich derlei Unterstellungen, ein Sprecher des Außenamtes äußerte "großes Unverständnis" und erklärte: "Das geht so nicht." Ankara reagierte prompt auf die Einbestellung seines Botschafters, indem es wiederum den deutschen Vertreter in der Türkei vorlud. Während unklar ist, was bei diesen Treffen tatsächlich besprochen wird, zählt vor allem die symbolhafte Wirkung. Das etwas aus der Zeit gefallene, diplomatische Instrument wird genutzt, um die Regierung eines anderen Landes demonstrativ zu kritisieren.
Wie es nun mit den Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei weitergeht, ist unklar. Die Gespräche laufen mittlerweile seit acht Jahren, die Bilanz ist bescheiden: 13 von 35 Kapiteln sind geöffnet worden. Weil Ankara sich noch immer weigert, Zypern anzuerkennen, sind weitere acht Kapitel ohnehin tabu. Wenn einige europäische Hauptstädte die Türkei nicht in der EU wollen, müssen sie gar nicht mit einem Aussetzen der Verhandlungen drohen. Die Weigerung, weitere Beitrittskapitel zu öffnen und damit eine Pause zu erzwingen, hat vielleicht keine vergleichbare diplomatische Wucht dafür aber denselben Effekt.
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