Markus Grabka sitzt in seinem kleinen Büro und hält einen Zettel in der Hand, auf dem eine Kurve zu sehen ist. Sie geht steil nach oben. "Das hier ist der Grund, sehen Sie!", sagt er und deutet mit dem Zeigefinger immer wieder auf die schwarze Linie. Sie zeigt, wie viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in den vergangenen Jahren geschaffen worden sind. "Ganze 2,2 Millionen zwischen 2005 und 2011!", ruft Grabka begeistert.
Grabka ist Wissenschaftler am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, er ist dort auch zuständig für das Thema Ungleichheit. Jahrelang hat er berechnet, dass die Schere bei den Einkommen in Deutschland immer weiter auseinandergeht. Nun hat er erstmals seit langer Zeit eine Bewegung in die andere Richtung feststellen können. Zwischen 2005 und 2010 ist Deutschland ein bisschen gleicher geworden. Grund war die gute Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die es vor allem den Schwächsten erlaubt hat, ihr Einkommen zu steigern. Das Institut hat dazu die Daten vom "Sozio-oekonomischen Panel" (SOEP), einer regelmäßigen Befragung von Haushalten, genutzt. Die neuesten, 2011 erhobenen Daten beziehen sich auf das Jahr 2010.
Vor allem zwischen 2000 und 2005 hatte die Einkommensungleichheit in Deutschland stark zugenommen, und diese Entwicklung hat die gesellschaftliche und politische Debatte geprägt. Die Kritik an den Hartz-Reformen, die Forderungen nach einem Mindestlohn und die im Zuge der Finanzkrise aufkommenden Wünsche nach mehr Umverteilung sind auch Folgen der Wahrnehmung dieser Entwicklung. Dass viele dieser Themen inzwischen auch von der CDU aufgegriffen werden, ist ebenfalls eine Konsequenz. Ein Großteil der Bevölkerung hat den Eindruck, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer geworden sind, und die politischen Parteien reagieren darauf. Jedes Mal, wenn die Bundesregierung ihren "Armuts- und Reichtumsbericht" vorstellt, entfacht sich eine große Debatte in der Republik. Es ist eine polarisierte und ideologisch aufgeladene Debatte.
Das DIW weiß um die politische Brisanz des Themas. Monatelang hatte sich die Veröffentlichung des Berichts hinausgezögert. Immer wieder rechneten die Wissenschaftler neu nach, bis sie sich absolut sicher sein konnten, dass kein Fehler in den Zahlen stecken würde. Es waren sich auch nicht alle am Institut einig, dass es eine gute Idee ist, diese Ergebnisse zu veröffentlichen. Wenn man das DIW politisch einordnet, dann hat es die größte Nähe zur Sozialdemokratie. Dass die Schere sich bei den Einkommen ausgerechnet nach dem In-Kraft-Treten der Hartz-Reformen etwas schließt, ist manchen unangenehm, geradezu ungeheuer. Die Veränderungen am Arbeitsmarkt wurden zwar von Rot-Grün eingeführt, doch inzwischen haben sich große Teile der SPD von ihnen distanziert, weil sie der Meinung sind, die Reformen hätten zur sozialen Spaltung beigetragen. Manche hätten die Ergebnisse der Öffentlichkeit wohl lieber nicht präsentiert – oder zumindest noch nicht so früh, wenn man noch nicht von einer Trendwende sprechen kann.
Dem Vorstandsvorsitzenden des Instituts, Gert Wagner, dürfte die Veröffentlichung nicht gefallen haben. Jedenfalls weist er in einem an die Studie angefügten Kommentar namens "Zur Aussagekraft von Einkommens- und Armutsstatistiken" ausdrücklich darauf hin, dass die Rechercheergebnisse seiner Kollegen Markus Grabka, Jürgen Schupp und Jan Goebel alles andere als gesichert seien. "Die Veränderungen seit 2005 sind so gering, dass man nicht sicher sagen kann, ob Ungleichheit und Armutsgefährdung wachsen oder sinken", schreibt Wagner. Politische Schlussfolgerungen im Namen des Instituts hält er für falsch: "Eine Forschungseinrichtung wie das DIW Berlin sollte sich darauf beschränken, zu berichten", schreibt er, und "Ursachen sowie Folgen von Veränderungen zu diskutieren". Bewertungen sollten Politikern und Journalisten vorbehalten bleiben, so Wagner, "was persönliche Aussagen und Kommentierungen einzelner Institutsangehöriger nicht ausschließt". In dem veröffentlichten Bericht heißt es dann auch recht nüchtern: Die Ergebnisse der Studie legten nahe, "dass es den wirtschaftlichen Akteuren nach der Finanzkrise in der ökonomischen Erholungsphase gelungen ist, die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung abzubremsen".
Markus Grabka will wohl deshalb vorsichtig bleiben, er spricht von einer "ersten Bewegung in die andere Richtung", man komme von einem historischen Höchstniveau. Die neue Gegenbewegung habe die vorangegangene Entwicklung nicht gleich wieder rückgängig gemacht. Dann aber präsentiert er weiter begeistert seine Zahlen. Er lässt sich sogar dazu hinreißen, eine Prognose für 2011 abzugeben: Vieles spreche nach ersten Datenerhebungen dafür, dass sich die Ungleichheit im vergangenen Jahr weiter verringert haben dürfte.
Die Angleichung lasse sich besonders deutlich an den "realen Markteinkommen" ablesen – sie summieren Kapital- und Erwerbseinkommen einschließlich privater Transfers und privater Renten. In Westdeutschland stiegen diese Einkommen von 2005 bis 2010 um knapp 1000 Euro oder vier Prozent. Im Osten, wo die Arbeitslosigkeit noch stärker zurückging, war der Einkommenszuwachs laut dem DIW mit knapp 2900 Euro oder 20 Prozent noch kräftiger. Der "Gini-Koeffizient", ein statistisches Maß für Ungleichheit, ist im Osten bei den Markteinkommen zwischen 2005 und 2010 um neun Prozent gesunken, im Westen waren es drei Prozent.
Bei den verfügbaren Einkommen, also der Summe, die man tatsächlich hat, nachdem Sozialtransfers vom Staat überwiesen und Steuern und Abgaben abgezogen wurden, ist die Entwicklung etwas gemischter. Dann ist die Ungleichheit in Westdeutschland mit minus vier Prozent zwar ebenfalls zurückgegangen, in Ostdeutschland aber ist sie unverändert geblieben. Das hängt damit zusammen, dass in Ostdeutschland trotz der guten Arbeitsmarktentwicklung weiterhin viele Menschen stagnierende oder sogar sinkende Einkommen als Arbeitslose oder Rentner beziehen. Die positive Entwicklung bei den Realeinkommen sei davon "mehr als kompensiert worden", heißt es in dem Bericht. Vor allem die Schwächeren haben vom boomenden Arbeitsmarkt profitiert. Zwischen 2009 und 2010 etwa konnten die unteren 40 Prozent der Bevölkerung ihr verfügbares Einkommen real um etwa zwei Prozent und damit überdurchschnittlich steigern. Die mittleren und oberen Einkommen stagnierten dagegen im Jahr 2010 – vor allem wegen eines Rückgangs der Einkommen aus Vermögen.
Dass ausgerechnet am unteren Ende der Skala die Einkommen zugenommen haben, liegt Grabka zufolge vor allem daran, dass viele Arbeitslose einen Job bekommen haben. Martin Biewen, Professor an der Universität Tübingen, glaubt das auch. Er hat untersucht, warum die Schere in Deutschland zwischen 1999 und 2005 so weit auseinandergegangen ist. Zwar war mit 40 Prozent der stärkste Treiber der Ungleichheit die Spreizung der Erträge am Arbeitsmarkt: Wer besser qualifiziert ist, verdient immer mehr, wer schlecht qualifiziert ist, immer weniger. Das ist eine Folge des technologischen Fortschritts, und es ist eine Entwicklung, die alle entwickelten Industrieländer durchmachen. Auch der sinkende Einfluss der Gewerkschaften und die Steuerreformen, die Einkommen am oberen Ende entlastet haben, trugen etwa zehn bis 20 Prozent zur wachsenden Ungleichheit bei. Doch zu 25 Prozent war die Entwicklung in der steigendenden Arbeitslosigkeit begründet, sagt Biewen. "Da ist es logisch, dass die Schere sich bei einem starken Jobwachstum wieder etwas schließt." Er glaubt auch, dass die Hartz-Reformen die Dynamik am Arbeitsmarkt verstärkt haben dürften. Der Druck, eine Arbeit zu niedriger Entlohnung anzunehmen, ist gestiegen, gleichzeitig hat die Bundesagentur für Arbeit ihre Vermittlung professionalisiert. Zudem ist die Zeitarbeit liberalisiert und ein Niedriglohnsektor geschaffen worden.
Die Einkommenszuwächse am unteren Ende haben jedoch nicht zu einer deutlichen Verringerung der Armutsquote geführt. Sie blieb zwischen 2005 und 2010 im Westen mit ungefähr 14 Prozent und im Osten Deutschlands mit rund 19 Prozent auf dem gleichen Niveau. Als armutsgefährdet gilt hierbei, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Dass das Armutsrisiko nicht parallel zur Einkommenssteigerung im unteren Bereich abgenommen hat, erklären die Wissenschaftler unter anderem mit der hohen Anzahl ostdeutscher Neurentner mit sinkenden Einkommen. Auch niedrige Löhne etwa bei Minijobs spielten eine Rolle. "Geringfügige Beschäftigungen oder Teilzeittätigkeiten können das Armutsrisiko nur bedingt begrenzen", schreiben die Forscher. Vor allem, wenn die Menschen allein lebten, was immer öfter der Fall sei.
Ob sich die Ungleichheit weiter verringert, hängt nun auch damit zusammen, ob diejenigen, die in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, weiter aufsteigen – dann hätten die oft niedrig entlohnten Jobs auch als Sprungbrett gedient. "Zeitarbeit ist besser als gar keine Arbeit. Ich würde mir aber wünschen, dass man daraus die Chance bekommt, in eine normale Beschäftigung zu wechseln", sagt etwa Arbeitsagentur-Chef Frank-Jürgen Weise. Wie viel Ungleichheit eine Gesellschaft verträgt, ist schwer zu definieren. Anthony Atkinson von der Universität Cambridge, einer der renommiertesten Ungleichheitsforscher weltweit, hat dieses Rezept: "Die Frage ist doch: Wie groß kann die Lücke zwischen Arm und Reich werden, bevor die Menschen oben und unten denken: Wir gehören nicht mehr zur gleichen Welt", sagt er. Dann gebe es kein gemeinsames Band mehr, das die Gesellschaft zusammenhalte.
Gebäudereinigerin
Der Arbeitstag von Heidi Ralfs beginnt, wenn andere Feierabend machen. Jeden Nachmittag um fünf Uhr steigt die 58-Jährige mit drei Kollegen in einen Ford Transit und startet zu ihrer allabendlichen Tour durch Flensburg. Während in den Büros der Stadt nach und nach die Lichter ausgehen, macht Ralfs die Runde und schaltet sie wieder ein. Holt Staubsauger, Eimer und Wischlappen aus dem Besenschrank und putzt bis morgens um zwei. 8,82 Euro plus Zuschläge verdient Heidi Ralfs pro Stunde, den Tariflohn für Gebäudereiniger. Für Heidi Ralfs ist das viel. Früher mal hatte sie in der Seefahrt gearbeitet. Dann blieb sie zu Hause, um ihre Eltern zu pflegen, bis zum Ende. Und durchstand selbst drei Krebserkrankungen. Als sie dann, nach fünf Jahren ohne geregeltes Einkommen, wieder einen Job suchte, erhielt sie nur Absagen. Nun hat sie doch noch einen Job gefunden, bei der Flensburger compact Service Gruppe, deren 1200 Mitarbeiter alle sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Im Monat kommt sie auf 1300 bis 1500 Euro netto. Sie leide keinen Hunger, könne ihre Rechnungen zahlen und sich sogar einen Urlaub leisten. Und nicht mehr auf staatliche Leistungen angewiesen zu sein, macht sie stolz. Es gebe in Deutschland zwar eine große Kluft zwischen Arm und Reich. "Aber durch Fleiß kann man die Treppe hochsteigen", sagt die 58-Jährige. "Es geht nicht nur um Geld", sagt sie, "sondern auch um Anerkennung."
Pförtner
Christoph Weisner sitzt im Pförtnerhaus eines großen Lebensmittelunternehmens in Schleswig-Holstein. Tagsüber nimmt der 45-Jährige Anrufe entgegen und kontrolliert die ein- und ausfahrenden Fahrzeuge. Hat er die Nachtschicht, hält er die Überwachungsmonitore im Blick, kontrolliert die Technik, macht ab und zu mal einen Gang mit der Taschenlampe. "Ein guter Job", sagt der Mann aus Glücksburg. Heute sorgt er für Sicherheit. Vor drei Jahren war seine eigene Existenz mehr als unsicher. Das Motorola-Werk in Flensburg, wo er als Sicherheitsmann arbeitete und auch seine Frau einen Job hatte, wurde geschlossen. Die Weisners standen plötzlich vor dem Nichts. Sie mussten ihr Haus verkaufen, stellten sich auf Hartz IV ein. Es war das Jahr 2008, mitten in der Finanzkrise. Ein denkbar schlechter Zeitpunkt für einen Neuanfang. Fast ein Jahr suchte Weisner vergebens einen Job. Dann fand er seine Stelle als Pförtner. Er profitiert heute vom gesetzlichen Mindestlohn in der Branche, mit dem er durch Nacht- und Feiertagszuschläge auf bis zu 1700 netto kommt. Dass sein Arbeitgeber eine Zeitarbeitsfirma ist, stört ihn nicht. Hauptsache eine feste Anstellung. Mittlerweile reicht das Geld schon wieder, um Pläne zu schmieden. Auch seine Frau habe beruflich Fuß gefasst, erzählt Weisner. Sie mache eine Ausbildung in der Altenpflege. "Nun überlegen wir, ob wir uns ein Haus bauen oder kaufen wollen."
Verkäuferin
Marija Boudouh, 28, hat einen Job bei McDonald's bekommen, nachdem sie sich einige Jahre lang um ihre sieben und vier Jahre alten Kinder gekümmert hat. Eine Ausbildung als Floristin hatte sie wegen der Schwangerschaft abgebrochen. Nun möchte sie endlich unabhängig vom Amt sein, nachdem sie für beide Kinder einen Betreuungsplatz bis 17 Uhr bekommen hat. Boudouh verkauft bei McDonald's Burger. 7,50 Euro pro Stunde bekommt sie dafür, sie arbeitet 20 Stunden in der Woche. So verdient sie 600 Euro im Monat. Weil das nicht zum Leben für die Alleinerziehende und ihre Kinder reicht, muss sie ihr Gehalt mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken. Der Staat zahlt ihr Wohnung, Strom und Kindergeld. Für die Lebenshaltungskosten kommt sie nun selbst auf. Immerhin 200 Euro mehr im Monat habe sie, seit sie arbeitet. "Für mich ist das viel Geld." Sie will den geringen Stundenlohn nicht kritisieren. "In meiner persönlichen Situation ohne Arbeitserfahrung und Ausbildung ist das okay, für mich hat sich dadurch eine Perspektive entwickelt", sagt sie. Sollte sie sich bei McDonald's bewähren, hat sie die Perspektive, im Sommer eine Ausbildung bei McDonald's als Systemgastronomin zu absolvieren und dann auch voll zu arbeiten. Als ungleich empfindet sie die deutsche Gesellschaft trotz ihrer niedrigen Entlohnung nicht. "Ich habe den Eindruck, dass die meisten Leute zur Mittelschicht gehören. Reiche sind in der Minderheit."
Ingenieur
Moritz Bertsch ist im Frühjahr 2010 unbefristet von dem Automobilzulieferer ElringKlinger übernommen worden. Wie viel genau der 28-Jährige verdient, möchte er nicht sagen, das Tarifeinstiegsgehalt für Entwicklungsingenieure beträgt jedenfalls zwischen 3500 und 4000 Euro monatlich. Bertsch hatte zuvor Fahrzeugtechnik studiert und dann bei ElringKlinger seine Diplomarbeit geschrieben. Er habe damit gerechnet, schnell einen Arbeitsplatz zu finden. "Ich habe ja Fahrzeugbau studiert, weil ich wusste, dass die Einstiegschancen und Gehälter gut sind", sagt er. Mit seiner Bezahlung ist er zufrieden, er denkt aber, dass seine Ausbildung und Leistung künftig auch einen Anstieg rechtfertigen. Wichtig ist ihm, dass er sich später eine Familie mit zwei Kindern und schöne Urlaubsreisen leisten kann. Bertsch hat Freunde, die am Band arbeiten. "Über Geld sprechen wir nicht. Aber denen geht's allen gut", sagt er. Von Pflegekräften weiß er, dass sie wenig verdienen, obwohl sie einen harten und wichtigen Job mit Verantwortung machen, wie er sagt. "Aber andererseits weiß man ja auch vorher, dass da die Löhne niedrig sind", sagt er. In Deutschland habe jeder eine Chance und könne sich seine Träume ermöglichen. Etwa über ein Studium mit BAföG. Bertsch hat nicht den Eindruck, dass Arm und Reich in Deutschland weit auseinanderliegen. "Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich mitten in Stuttgart lebe", sagt er.
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